Montag, 8. Dezember 2008
Weihnachtsmarkt
"Wir kommen 16:15 auf Gleis 8 an" hat mein Vater am Handy gesagt. Ich sitze auf heißen Kohlen in der U-Bahn, es ist 16:08 und die Bahn steht vorm Hauptbahnhof im Tunnel und fährt nicht weiter. Es riecht nach verbrannter Elektrik und ich werde nervös. Die Bahn fährt nicht, ich komme wahrscheinlich zu spät und ich muss noch pissen. Ich pisse am Bahnhof traditionell nur auf der Toilette, wo man 50 Cent vorkasse an den Inder mit dem fleckigen Gesicht zahlen muss. Auf der anderen Bahnhofs-Toilette kann ich nicht. Paruresis. Pissen dauert mindestens fünf Minuten, weil diese bestimmte Toilette etwas abgelegen in der Fußgängerpassage liegt. Ich werde garantiert zu spät kommen, und mein Vater wird wieder sagen, dass ich ein Versager bin. Natürlich wird er mir das nicht laut sagen. Das tut erschon lange nicht mehr. Seitdem ich auf eigenen Füßen stehe, demütigt er mich nur noch telepathisch. Ich könnte auf' s Pissen verzichten und mir das die ganze Zeit auf dem Weihnachtsmarkt verzichten. Ist sowieso nur dieses blöde Stresspissen. Oder darauf hoffen, dass es auf dem Weihnachtsmarkt eine halbwegs akzeptable Toilette gibt. Vergiss es, sage ich mir. Keine Chance. Akzeptable Toilette auf dem Weihnachtsmarkt - Träumer! Die Bahn fährt endlich weiter. 16:09. Ich stehe schon mal auf. Der Typ vor mir trägt einen schwarzen Bugatti-Mantel. Das erkennt man am vom außen aufgenähten Bugatti-Schild unter dem Kragen. Wenn ich so einen Mantel hätte, würde ich so ein blödes Schild abtrennen. Diese Mäntel sehe ich neuerdings immer öfter. Eine Verschwörung. Ich werde überwacht von Bugatti-Mantel-Typen. Der Typ hat mich die ganze Zeit während der Fahrt nicht einmal angeschaut. Der versteht sein Handwerk! Die Bahn fährt endlich in den Bahnhof ein und hält an. Die Türen öffnen sich im Zeitlupentempo. Ich gehe zügig, nicht hastig Richtung Toilette. Nur kein Aufsehen erregen. KOMM ich halt zu spät. BIN ich halt ein Versager. Hauptsache nicht auffallen. Der Inder mit dem fleckigen Gesicht lächelt, als ich ihm die drei 20-Cent-Münzen auf den Teller lege. Am Urinal stehend höre ich, wie noch jemand herein kommt. Verdammt! Stellt sich dreist neben mich. Warum nimmt er nicht die Urinalreihe an der gegenüberliegenden Wand? Wahrscheinlich, weil man die vom Eingang aus einsehen kann. Okay, das ist ein guter Grund. Scham vor Leuten, die die Hose noch nicht offen, und den Schwanz noch nicht herausgeholt haben. Damit kann ich leben. Solidarität unter Pissgestörten. Er ist eher fertig als ich. Geht ohne die Hände zu waschen. Sau. Ich wasche meine Hände. Der fleckige Inder hält mir ein diagonal gefaltetes Blatt einer Recycling-Papier-Küchentuchrolle hin. Sein Kollege, der 1,90-Bimbo hat mir mal erzählt, dass sie Rollen aus eigener Tasche bezahlen müssen, und das nur aus Anstand tun. Deshalb bekommt jeder Toilettenbesucher nur ein Blatt. Seitdem bezahle ich dort für's Pissen immer etwas mehr als die verlangten 50 Cent. 16:16 stehe ich auf Bahnsteig Gleis 8. Die Einfahrt des Zuges mit meinem Vater drin wird gerade angekündigt. Meine Mutter und meine Schwester kommen auch mit.

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